Zum 77. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

International wird heute den im Holocaust ermordeten sechs Millionen Jüdinnen und Juden gedacht. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee Auschwitz, einen Komplex aus deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern in Polen. Siebentausend Menschen befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in dem Lagerkomplex. Über eine Million Menschen waren darin getötet worden. Auschwitz ist zu einem Symbol geworden. Für den Holocaust, für die industrielle Massenvernichtung von Menschen. Doch fast droht dahinter das Geschehen selbst zu verschwinden. Die Bekanntheit des Symbols steht in eklatantem Widerspruch zum Wissen über die Shoa und über ihre Bedingungen. Der Katastrophe von Auschwitz kommt auch in emanzipatorischen Kämpfen kaum die notwendige Bedeutung zu.

 

Nationalsozialismus und Holocaust

Seit 1945 gibt es Bestrebungen, Auschwitz vergessen zu machen. Bei anderen Verbrechen der Shoa ist dies fast gelungen: die Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, Sobibor, Treblinka und Belzec mit insgesamt 1,7 Millionen Toten oder die Massaker von Babyn Jar oder Rumbula spielen als Angelpunkte emanzipatorischen Engagements wie theoretischer Auseinandersetzung kaum eine Rolle. Ebenfalls nur wenig bewusst sind die vielfältigen Formen jüdischen Widerstandes gegen den Antisemitismus. Jüdinnen und Juden organisierten gegenseitige Hilfe und Fluchten aus Deutschland, sabotierten die deutsche Vernichtungsmaschinerie, kämpften in den Armeen der Westalliierten und in der Roten Armee, bildeten jüdische Brigaden und PartisanInnen-Gruppen. Die Bestrebungen, vergessen zu machen oder die Schuld nur an bestimmten Tätergruppen festzumachen, gingen aus fast allen Teilen der deutschen Gesellschaft hervor und hängen nicht zuletzt mit der engen Verbindung von Holocaust und nationalsozialistischer Volksgemeinschaft zusammen. Der Holocaust war ein Gesellschaftsverbrechen. Deutsche Polizei-Bataillone, SS und Wehrmacht ermordeten eigenverantwortlich Millionen von Menschen. Zahllose Unternehmen der deutschen Privatwirtschaft beuteten Jüdinnen und Juden aus, selektierten eigenmächtig, belieferten Konzentrationslager, beteiligten sich an medizinischen Experimenten, konstruierten und warteten Waffen, Erstickungskammern und Öfen. Die Behörden des NS-Staates konkurrierten darum, maßgeblich und vorauseilend Anteil an der Vernichtung zu haben. Der NS-Staat trat gegenüber den Ausgegrenzten und Verfolgten als Diktatur auf. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hingegen partizipierte und profitierte. Ihr lang gehegter Antisemitismus wurde in politische Praxis übersetzt, "Arisierungen" brutalisierten den Wettbewerb der Konkurrenzgesellschaft zum massenhaften Raub, entlassene und deportierte Menschen hinterließen freie Stellen in Wirtschaft und Verwaltung. Neben dem direkten Profitieren von Ausgrenzung und Verfolgung verhieß der Vernichtungsantisemitismus vermeintliche Erlösung.

Die mit der Herausbildung kapitalistischer Gesellschaftsordnungen einhergehenden indirekten Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die immer wiederkehrenden Krisen, individuelle Ohnmachtsgefühle, gesellschaftliche wie innere Widersprüche, narzistische Kränkungen und unerfüllte Sehnsüchte werden im Antisemitismus auf Jüdinnen und Juden projiziert. Wirtschaft wurde ideologisch in „raffendes Kapital“ und „schaffendes Kapital“ unterteilt, körperliche Arbeit und Unterordnung verherrlicht und die Klassengegensätze in einer rassistisch strukturierten „Volksgemeinschaft“ negativ befriedet. Während andere Bewegungen des 20. Jahrhunderts eine emanzipatorische Aufhebung des Kapitalismus, eine Emanzipation aus Herrschaft, Zwang und Verwertung erstrebten, zielten die Nationalsozialisten auf eine negative Aufhebung des Kapitalismus - auf seiner eigenen Grundlage. In der Formierung als Volksgemeinschaft, in der Organisation der Deutschen Arbeitsfront und ihren Betriebsgemeinschaften, besonders aber in dem Kampf gegen eine angebliche, mystische und unfassbare Weltverschwörung und in der versuchten Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sah die Mehrheit der Deutschen die ersehnte Befreiung. Mit Leidenschaft konnte sie sich im Antisemitismus als gewalttätiger Praxis aller zivilisatorischer Fesseln entledigen. Die Rolle des Antisemitismus für den Nationalsozialismus wird dennoch immer wieder unterschätzt und die Spezifika des Antisemitismus geleugnet. Die Shoa war der Versuch der völligen Vernichtung einer Gruppe, an welcher Glück oder Unglück der Welt hängen sollte. Die Grenzen zweckrationaler Vernunft, wurden nicht nur ausgedehnt, sie wurden weggefegt. Nicht Ausbeutung, nicht militärischer Vorteil, nicht Landgewinn waren das Kernziel, sondern die völlige Auslöschung aller Jüdinnen und Juden. Mit ihnen sollte die moderne Gesellschaftsordnung untergehen.

 

Für ein kritisches Geschichtsbewusstsein

Das Ende des Nationalsozialismus als Gesellschaftsform ging fließend über in eine Schlussstrich-Stimmung. Für die Mehrheit der Deutschen war der Krieg verloren. Die Kolonisierung des europäischen Ostens, die rassistisch legitimierte Herrschaft über Slawinnen und Slawen, die angestrebte deutsche Hegemonie in Europa und Nordafrika, die Besatzungsregimes, die millionenfache Zwangsarbeit, die rassistische Formierung der Volksgemeinschaft durch Ausgrenzung und Gewalt, die sozialdarwinistischen Tötungen, der Porajmos und die Shoa waren militärisch beendet worden. Geschwiegen wurde danach weniger als weithin angenommen, aber gewusst haben wollte kaum jemand etwas. Die Versuche, Geschichte umzuschreiben, dauern bis heute an. Maßgebliches Ziel der neuen Rechten, vom Institut für Staatspolitik über die Identitäre Bewegung bis zur AfD, ist es, die Schoa in der Geschichte einzuebnen. Die Auseinandersetzung mit dem Verbrechen gilt ihr als maßgebliche Hürde zur Rehabilitierung eines völkischen Gesellschaftsmodells. Der Druck des rechten Geschichtsrevisionismus nimmt so wieder zu. Mit einer ritualisierten, symbolischen und staatlich angeeigneten Geschichtskultur ist diesem Druck kaum etwas entgegenzusetzen. Statt Ritualen und Sonntagsreden braucht es individuelle wie zukunfts- und gegenwartsbezogene Zugänge. Gedenken alleine, so bedeutend es sein kann, schafft noch kein Bewusstsein. Historisches Wissen aber, zu dem man sich selbst in Beziehung setzt, kann Orientierung geben für ein Handeln im Heute und für Morgen.

Wichtige Orte solcher Auseinandersetzungen und Aushandlungen sind die linken Jugendverbände. Der BDP und seine Gliederungen sind seit Jahrzehnten aktiver Teil einer kritischen, ernsthaften und vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der Shoa und mit den verschiedenen Formen des Widerstandes. Es gibt gute Gründe, hieran auch weiterhin anzuknüpfen und das Engagement geschichtsbewusst zu verstärken. Auch in weiten Teilen der Linken wird Auschwitz kaum zum Anlass für inhaltliche Auseinandersetzung und praktisches Handeln genommen, ist der Kampf gegen Antisemitismus ein Nebenschauplatz. Nimmt man die Katastrophe von Auschwitz jedoch ernst, dann müssen emanzipatorische Kämpfe maßgeblich das Ziel beinhalten, dass solch ein Verbrechen niemals wieder geschehen kann. Dazu braucht es eine kontinuierliche und tiefgehende Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Antisemitismus und deren Ursachen, verbunden mit einer emanzipatorischen Kritik der modernen und postnazistischen Gesellschaft.

 

Gegen jeden Antisemitismus

Der Kampf gegen Antisemitismus lässt sich dabei nicht auf den Kampf gegen Rechts beschränken. Die Singularität der Shoa und die Spezifika des Antisemitismus werden längst nicht nur von dort angezweifelt. Esoterisch-okkulte Strömungen, die sich in antisemitischer Tradition gegen die sogenannte Schulmedizin richten, oder Vertreter:innen der Ideologie einer finsteren Weltverschwörung finden sich überall in der Gesellschaft und formieren sich gegenwärtig jeden Montag bei den Querdenken-Demonstrationen. Regressiver Antikapitalismus, antisemitische und antizionistische Positionen sind auch in Teilen linker Zusammenhänge existent. Islamistische Akteure zielen weltweit in immer wiederkehrenden Anschlägen auf jüdisches Leben und auf den jüdischen Staat. Als im Mai 2021 der Raketenterror der islamistischen Hamas gegen Israel losbrach, wurde dieser begleitet von einer globalen Welle antisemitischer Attacken. Auch jüdische Gemeinden und Jüdinnen und Juden in Deutschland wurden angegriffen, auf der Straße, in Synagogen, im Netz. Jüdische Realitäten und jüdisches Leben sind freilich nicht nur geprägt von Antisemitismus, sondern sind auch in Deutschland so vielfältig und unterschiedlich wie Jüdinnen und Juden selbst. Doch Antisemitismus ist ein Teil dieser Realitäten. Darum gilt es, stets eindeutig Stellung gegen jeden Antisemitismus zu beziehen und sich auf die Seite aller von Antisemitismus Bedrohten, ob in Berlin oder in Tel Aviv, zu stellen. Auch das muss Teil einer gegenwartsbezogenen Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit dem Nationalsozialismus, mit der Shoa und mit jüdischem Leben sein.

 

Zum Weiterhören:

Laura Cazés: “Antisemitismus ist tief verankert!” – Laura Cazés über junges, jüdisches Leben in Deutschland, bei: Wolfgang Heim: “Erzähl mir was Neues”, 2021.

Lothar Galow-Bergemann: Unverstandener Nationalsozialismus - Unverstandener Antisemitismus, bei: Emma und Fritz. Ideologiekritische Vorträge, 2015.

 

Zum Weiterlesen:

Timo Galki: Gegen das kritische Geschichtsbewusstsein: die Zeitschrift “Sezession” und ihre Agenda, in: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hrsg.): Reflexionen. Jahresmagazin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora / 2021, S.44-47.

Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin 2020.

Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des Antisemitismus, Frankfurt am Main 2005 (1987).

Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988.

Philipp Lenhard: “Weisse Juden”. Zum Unterschied von Rassismus und Antisemitismus, in: Jan Gerber (Hrsg.): Die Untiefen des Postkolonialismus, in: Hallische Jahrbücher (Bd. 1), Berlin 2021, S.47-72.

Samuel Salzborn: Was ist moderner Antisemitismus?, in: Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung, 2020.

Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 2011 (1969), S.177–217.