Wozu Gedenken? Erinnerungssarbeit an den NS im Wandel der Zeit
Wozu Gedenken? Erinnerungssarbeit an den NS im Wandel der Zeit
Mit dem BDP Bremen haben wir in den letzten Jahren mehrere Fahrten organisiert, die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Faschismus und seiner Gewalt zum Ausgangspunkt hatten. Im Herbst 2020 waren wir in Italien, wo wir auf den Wegen der Partisan_innen gewandert sind. In Workshops und auf Stadtrundgängen haben wir uns mit italienischer Geschichte im Allgemeinen und der Region Reggio Emilia im Besonderen beschäftigt. Dort haben wir mit Giacomina Castagnetti auch eine Zeitzeugin getroffen. Als damals Siebzehnjährige hat sich Giacomina, aus einer antifaschistischen Familie kommend, aller Risiken zum Trotz der Resistenza angeschlossen und sich gegen den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus aufgelehnt.
Im Herbst 2019 waren wir im polnischen Lublin, wo wir diverse Gedenkstätten des nationalsozialistischen Terrors besichtigt haben. In Workshops und Stadtrundgängen haben wir uns u.a. mit dem Plan der Vernichtung der polnischen Jüd_innen durch die Nationalsozialisten beschäftigt. Die Schwierigkeit dieser Fahrten liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass es kaum Zeitzeug_innen gibt, die die deutschen Vernichtungslager rund um Lublin überlebt haben. Auch gibt es elementare Unterschiede in der Gedenk- und Geschichtskultur zwischen Deutschland und Polen, die ein miteinander (Ge)Denken nicht immer einfach machen.
Bereits nach unserer Fahrt in die Gedenkstätte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz 2017 haben wir die Überlebende Esther Bejarano nach Bremen eingeladen. Bejarano, die als Jugendliche im Mädchenorchester in Auschwitz spielen musste, hat aus ihren Memoiren gelesen und anschließend zusammen mit der HipHop-Combo „Microphone Mafia“ ein Konzert gespielt. Vor dem Konzert haben Jugendliche von ihren Erfahrungen berichtet, die sie zuvor auf unserer Gedenkstättenfahrt gemacht hatten.
Zeitzeug_innen zu treffen ist immer etwas ganz besonderes und für viele Teilnehmende solcher Gedenkstättenfahrten ein Highlight. Aus unterschiedlichen Gründen ist eine solche Begegnung jedoch nicht immer möglich. Nicht nur da stellt sich die Frage: Warum machen wir das überhaupt? Warum ist Gedenkarbeit (immer noch) wichtig? Natürlich könnte man diesen Artikel einleiten mit dem Satz: Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist verdammt sie zu wiederholen. Aber ist es wirklich so einfach? Einmal in eine Gedenkstätte fahren und schon sind wir alle bessere Menschen? Die immer wiederkehrende Diskussion über Pflichtbesuche in Gedenkstätten des nationalsozialistischen Terrors zeigt, dass diese Formel, wer hätte das gedacht, nicht so einfach ist.
Für Gedenkarbeit gibt es für uns als BDP nicht den einen Grund, sondern eine Vielzahl an Gründen. Erstens geht es um das Andenken der Opfer. Es ging den Nazis nicht ausschließlich darum, die Menschen zu vernichten. Es ging Ihnen auch darum, ihre Kultur und die Erinnerung an sie im Gesamten auszulöschen. Eine Auseinandersetzung damit, ein daran denken ist ein Schritt entgegen der nationalsozialistischen Ideologie. Wir vergessen nicht. Wir lassen es nicht zu, dass die Nazis diesen späten Sieg haben. Darum ist es wichtig, sich der Menschen zu erinnern, die Opfer geworden sind.
Zweitens geht es darum, aus der Geschichte zu lernen: Wie konnte es soweit kommen? Was hat dazu geführt, dass so viele Menschen ihre Augen vor dem Elend verschlossen haben? Welche Kontinuitäten gibt es?
Drittens: Wehret den Anfängen: die Ermordung der europäischen Jüd_innen, Behinderten, von Sint_ezza und Rom_nja, die Verfolgung von politischen Gegner_innen und homosexuellen Menschen hat nicht mit Konzentrationslagern und Gaskammern angefangen. Es war ein Weg dahin, der mit vielen (rechtlichen und sozialen) Einschränkungen bestimmter Personengruppen einherging. Bereitet wurde der Weg mit antisemitischer, (Gadje-)rassistischer1 und anderer menschenverachtenden Propaganda, die Vorurteile und Hass geschürt hat und Menschen zu Mitgliedern einer anderen Gruppe gemacht hat. Nur wenn wir diese Ausgrenzungsmechanismen kennen, wissen wir, an welcher Stelle es notwendig ist, ausdrücklich Nein zu sagen.
Oft wird die Frage gestellt, ob Gedenkarbeit auch ohne Zeitzeug_innen geht. Die Antwort ist – ja klar! Die Erinnerungskultur in Deutschland hat sich gewandelt – zum Glück. Erinnerungskultur befindet sich stetig im Wandel der Zeit. Nur weil es in der Vergangenheit zivilgesellschaftliches Engagement gegeben hat, gibt es heute vielfach überhaupt Gedenkstätten und andere Orte der Erinnerung. Es reicht aber nicht, zwei Stunden im Schulleben eine solche Gedenkstätte zu besuchen. So werden beispielsweise Spuren der Vergangenheit im Stadtbild übersehen und der Lehrplan in der Schule sieht nur eine unzureichende Auseinandersetzung mit dem Thema vor. Als Jugendverband, der sich dezidiert als antirassistisch und antifaschistisch versteht, ist es unsere Aufgabe, Jugendlichen Geschichte zugänglich zu machen. Wir kennen die Autobiografien derjenigen, die den Nationalsozialismus überlebt haben.
Als Jugendbildungsträger ist es an uns, damit zu arbeiten. In der ganzen Diversität, die auch die Diversität der Jugendlichen berücksichtigt. So bedarf die Vermittlung deutscher Geschichte vielfältigerer und erweiterter Blickwinkel, wie etwa die Perspektive von BIPoC Menschen und einem differenzierten Blick auf Kolonialismus. Die Auseinandersetzung mit Gedenken ist nämlich immer auch ein Abgleich mit dem Eigenen.
Wir machen Gedenkarbeit, weil es notwendig ist, die Vergangenheit zu kennen, um die Zukunft gestalten zu können. Wir machen Gedenkarbeit, damit ein „Nie wieder“ mit Leben gefüllt wird und wir uns menschenverachtenden Tendenzen im Heute entgegenstellen können. Geschichtsrevisionismus und rechte Angriffe auf Erinnerungskultur zeigen, wie umkämpft die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach wie vor ist. So unterschiedlich die Zugänge zu deutscher Geschichte heute aber sein mögen, so vielfältig die Methoden der Vermittlung auch sind: die Lehren aus der Vergangenheit sind universell und werden es im Sinne einer freien und emanzipierten Gesellschaft auch in Zukunft bleiben.
In diesem Sinne: Kein Schlussstrich! Kein Vergessen!
von Riki und Henrik (BDP Bremen)
1Gadje- Rassismus wurde von Romani- Aktivist_innen und -Wissenschaflter_innen vorgeschlagen, um die Bezeichnung „Antiziganismus“ zu ersetzen. Unter Gadje-Rassismus ist eine historisch gewachsene Praxis zu verstehen, die von Nicht-Rom_nja ausgeht und Menschen aufgrund von phänotypischen und kulturellen Merkmale und/ oder sozialen Merkmalen klassifiziert. Hier könnt ihr mehr lesen: https://www.idaev.de/recherchetools/glossar