Utopie

Utopien das utopische nehmen: Spekulieren über zukünftige Gesellschaften

Literatur:

Le Guin, U. K.

(1969): The Left Hand of Darkness. New York: Harper & Row (dt. 2014: Die linke Hand der Dunkelheit. Heyne)

(1974): The Dispossessed, New York: Harper & Row (dt. 2017: Freie Geister. Eine Zwiespältige Utopie. Frankfurt/Main: S. Fischer)

(1985): Always Coming Home, Berkeley.

(2020): Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft. Übersetzt von Matthias Fersterer. Klein Jasedow: ThinkOya/Drachenverlag.

Morus, T. (1516): Utopia. Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia. Löwen.

Utopien das utopische nehmen: Spekulieren über zukünftige Gesellschaften

Der Gebrauch der Vorstellungskraft ist gefährlich für jene, die vom gegenwärtigen Stand der Dinge profitieren, denn sie kann uns erkennen lassen, dass der gegenwärtige Stand der Dinge nicht dauerhaft, nicht universell, nicht notwendig ist.“ (Le Guin 2020)

Wenn wir an (‚die eine‘) Utopie denken oder davon sprechen dann ist damit zumeist etwas Unerreichbares gemeint. Gerade im Sprachgebrauch des Adjektivs wird dies deutlich: „Das ist utopisch“ wird oft synonym verwendet mit „das ist unerreichbar“. Diese Vorstellung ist über viele Generationen in unser Verständnis von einer ‚guten Zukunft‘ eingesickert, doch ihr hängt etwas Problematisches an. Denn wenn diese ‚gute Zukunft‘ – also das Ziel transformativer Bestrebungen – unerreichbar ist oder scheint, dann erscheinen auch alle Schritte in diese Richtung als letztendlich ‚sinnlos‘. Warum ist das so?

Es gibt ein dominantes Verständnis davon, was eine Utopie ist: der ‚perfekte (noch zu erreichende) Zustand‘. Dies ist jedoch eine sehr starre, verfestigte Vorstellung davon, was Utopie ist. Ebenso wenig wie der jetzige ‚Stand der Dinge‘ dauerhaft, universell und notwendig ist, sind es auch kommende Zustände. Und ist die gegenwärtige Lebensweise nicht bereits vergangenem Nachdenken über ‚die Zukunft‘ entsprungen? Leben wir nicht jetzt bereits in einer Utopie?

Der Begriff ‚Utopie‘ geht auf das Kunstwort und den gleichnamigen Roman von Thomas Morus „Utopia“ (1516) zurück. Der Engländer schöpfte das Wort aus dem Altgriechischen. Die Vorsilbe ‚U-‘ (οὐ) bedeutet ‚Nicht‘; ‚topos‘ (τόπος) heißt ‚Ort‘. Die damalige Utopie war also ausdrücklich ein ‚Nicht-Ort‘, ein unerreichbarer Ort.

Fortan wurden Ideen und Romane, die sich mit zukünftigen Gesellschaften befassten, als ‚Utopien‘ bezeichnet. Dabei wurde teilweise noch zwischen ‚Dys-topia‘ (schlechter Ort) und ‚Eu-topia‘ (guter Ort) unterschieden. Die Vorsilbe ‚Eu-‘ verschwand jedoch bald aus dem Sprachgebrauch.

Viele der bisher entstandenen Geschichten dieses Genres – einschließlich der von Morus – schufen Welten, die perfekt waren bzw. sein sollten. Perfekt, rational und starr. Sie wurden gewissermaßen am Reißbrett aufgezogen und von vorne bis hinten durchgeplant. Diese Welten bedurften keinerlei Verbesserung, die folglich in den Vorstellungen der Autor*innen und Leser*innen auch nicht stattfanden.

Das Problem, das mit dieser Art der Vorstellung über das (gute) Zukünftige einherging, war, dass es unmöglich erschien und erscheint, diesen ‚perfekten‘ Zustand zu erreichen. Der Weg hin zur Utopie schien mit menschlichen Mitteln nicht erreichbar. Zumindest nicht, ohne der vorgestellten/ gezeichneten Utopie zu widersprechen. Das bedeutet beispielhaft: Nur mit Mitteln wie Gewalt und Autorität kann demnach eine (vermeintlich) gewalt- und hierarchiefreie Gesellschaft erreicht werden. Utopien wurden utopisch.

 

Utopien anders schreiben und denken

Dies ist auch eine zentrale Kritik der Autorin Ursula K. Le Guin (1929 – 2018). Für sie ist Morus‘ „Utopia“ eine „Blaupause ohne Baugrund“, nach der jede Utopie als ein „unerreichbares Anderswo“ vorgestellt wurde (Le Guin 2020).

Sie schrieb deshalb seit den 60ern Romane, Geschichten und Essays, die sich praktisch und theoretisch mit utopischen Gedanken und Zukünften auseinandersetzten, die sich von den vorherigen unterschieden. In ihren Science-Fiction Romanen schuf sie Welten, die z.B. hierarchiefrei/ anarchistisch (Freie Geister, 2017 [1974]), androgyn/ geschlechtslos (Die linke Hand der Dunkelheit, 2014 [1969]) oder nicht-expansiv1 (Always Coming Home, 1985) sind und in weit entfernten Zukünften liegen. Sie erdachte sich ganze Universen mit vielen besiedelten Planeten, erschuf neue gesellschaftliche Organisationsformen, verschiedene Sprachen und Gepflogenheiten, die uns zu dieser Zeit unbekannt scheinen. Und doch schafft sie auch Bezugspunkte zum Hier und Jetzt und gibt ihren Leser*innen somit die Möglichkeit, sich hineinzuversetzen in die Geschichten und dadurch in ein Nachdenken zu kommen, wie das Leben wohl in einigen Tausenden von Jahren sein könnte. Ihr Anspruch ist es dabei jedoch nicht, ‚fertige‘, unerreichbare Utopien zu entwerfen. Vom dominanten Verständnis von „Utopie“ distanziert sie sich immer wieder. Dieses ist ihr zu sehr mit der bereits angeführten Vorstellung verknüpft:

Meine erzählende Literatur kann insofern als größtenteils ‚utopisch‘ bezeichnet werden, als sie einen flüchtigen Blick auf eine imaginierte Alternative zu unserer ‚gegenwärtigen Lebensweise‘ anbietet. Dennoch vermeide ich diesen Begriff. Zwar scheinen mir viele meiner erdachten Gesellschaften auf die eine oder andere Weise eine Verbesserung der unseren zu sein, jedoch finde ich ‚Utopie‘ eine viel zu große und starre Bezeichnung dafür.“ (Le Guin 2020)

Der Starr- und Perfektheit setzt Le Guin ein anderes Verständnis von Utopie entgegen. Dieses ist alles andere als starr und unveränderlich. Ihre Utopien sind fehlbar, sie sind abenteuerlich und teilweise auch widersprüchlich. Und sie sind nicht unerreichbar:

Die Essenz der rationalen Jupiter-Utopie ist hingegen, dass sie gerade nicht hier und nicht jetzt ist. Sie ist eine fortstrebende Reaktion der Willenskraft und der Vernunft auf das Hier und Jetzt, und sie ist, wie bereits Thomas Morus' Benennung zum Ausdruck bringt: nirgendwo. Sie ist reine Struktur, ohne Inhalt; reines Modell; Ziel. Das ist ihre Stärke. Die Utopie ist unbewohnbar. Sobald wir sie erreichen, ist sie keine Utopie mehr. Als Beleg für diesen traurigen, wenn auch unvermeidlichen Umstand, möchte ich darauf hinweisen, dass wir, die hier und jetzt in diesem Raum Anwesenden, eine Utopie bewohnen.“ (Le Guin 2020)

Ihr geht es bei diesen Entwürfen darum, das Bewusstsein (der Lesenden) von gewohntem Denken zu befreien:

Für mich ist das Entscheidende dabei nicht, eine spezifische Hoffnung auf Besserung anzubieten, sondern durch die Unterbreitung einer imaginierten, aber überzeugenden Alternativrealität das eigene Bewusstsein und somit auch das Bewusstsein der Lesenden von der faulen, furchtsamen Denkgewohnheit zu befreien, dass unsere gegenwärtige Lebensweise die einzige Weise sei, wie Menschen leben könnten. Ebenjene Trägheit des Denkens ermöglicht, dass institutionalisierte Ungerechtigkeit unhinterfragt fortgeführt wird.“ (Le Guin 2020)

Überzeugend sind ihre „Alternativrealitäten“ gerade dadurch, dass sie sie als fehlbar und dadurch menschlich beschreibt. Die Geschichten, die Le Guin schreibt, sind Geschichten des Alltags bzw. des Alltäglichen. Sie sind nicht spektakulär wie große Teile der Science-Fiction es sind – diese hangeln sich oftmals entlang von kämpferischen, spektakulären ‚Einzeltaten‘ von männlichen Helden. Dementgegen schreibt Le Guin tragende Geschichten, die von alltäglicher (Sorge-)Arbeit, Fragen und Ängsten der Figuren handeln, die den entworfenen zukünftigen ‚Status quo‘ kritisch hinterfragen und auch zu verändern versuchen.

Sie plädiert dafür, andere Geschichten zu erzählen und so ein anderes Denken über ‚die‘ Welt und ‚die‘ Menschheit zu ermöglichen:

Deshalb suche ich mit einer gewissen Dringlichkeit nach der Natur, nach dem Motiv, nach den Worten jener anderen Geschichte, der unerzählten Geschichte, der Lebensgeschichte. […] Der Roman ist eine im Kern unheroische Form des Erzählens. [...] Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die natürliche, angemessene, stimmige Form des Romans die eines Sacks, einer Tasche sein könnte. Ein Buch fasst Wörter. Wörter fassen Dinge. Sie tragen Bedeutungen. Ein Roman ist ein Medizinbündel, das Dinge in einem ganz bestimmten, wirkmächtigen Verhältnis zueinander und zu uns stehend fasst.” (Le Guin 2020)

Diesem Anspruch versucht sie in ihren fiktionalen Romanen gerecht zu werden.

So reist sie in ihrem Buch „Always Coming Home“ (1985) in eine ferne Zukunft, möglicherweise Jahrhunderte nach einem menschengemachten Öko-Kollaps. In Kalifornien haben sich neue Gemeinschaften angesiedelt. Es gibt noch toxische Regionen, Umweltbelastungen und tödliche Krankheiten aufgrund von Erbgutschädigungen, aber die Ökosysteme haben sich weitgehend erholt, die Natur ist eher lebensfreundlich. Le Guin stellt die Frage, wer diese zukünftigen Gemeinschaften sind und wie sie leben werden?

Sie schafft dafür die Figur der Forscherin Pandora, die als eine Art umgekehrte Archäologin das Volk der Kesh erforscht, das in der fernen Zukunft vielleicht ein gutes Leben gelebt haben wird: nicht-expansiv und egalitär2. Der Roman ist Pandoras Forschungsbericht, eine fiktive Ethnographie, die die Erzählungen, Lebensberichte, Theaterstücke, Lieder und Gedichte der Kesh zusammenträgt – sammelt – und um eigene Reflexionen, Beschreibungen und ein Glossar ergänzt. Eine Sammlung von ganz alltäglichen Berichten, Geschichten und Erlebnissen lässt ein Bild von den Kesh entstehen und die Lesenden darüber sinnieren, wie das Leben in hierarchiefreien Postwachstumsgesellschaften gestaltet sein könnte.

Ich möchte euch ermuntern und motivieren, alternative Zukünfte zu denken und zu schaffen und an einer Utopie im Le Guin’schen Sinne zu arbeiten: sie euch vorzustellen, sie zu schreiben, sie zu teilen; darüber zu sprechen und in Aushandlung zu gehen, und sie bereits heute zu leben. Gerade hier sieht Le Guin junge Menschen als entscheidende Akteur*innen an:

Junge Menschen sind gemeinhin empfänglich für diese Art von Geschichten, denn in ihrem Elan und Erfahrungsdrang sind sie offen für Alternativen, Möglichkeiten und Wandel. Viele Erwachsene hingegen fürchten bereits die bloße Vorstellung wirklicher Veränderung, lehnen jegliche fantastische Literatur kategorisch ab und brüsten sich damit, dass sie nicht über den Tellerrand dessen, was sie bereits wissen oder zu wissen glauben, hinausschauen.“ (Le Guin 2020)

Von Manu

 

1„nicht-ausdehnend“: Die jetzige kapitalistische Gesellschaftsordnung fußt darauf, dass sie sich immer weiter ausdehnt. Einerseits räumlich durch eine (kriegerische, koloniale) Ausbreitung über den Erdball (und darüber hinaus), andererseits durch eine Vereinnahmung immer neuer Sphären in die Marktlogik und dem Streben nach wirtschaftlichem Wachstum.

2In einer egalitären Gesellschaft sind alle Menschen gleichgestellt und haben gleichen Zugang zu Ressourcen (Nahrung, Güter, Land etc.). Kein Mitglied kann über ein anderes Mitglied Macht ausüben.