Das Problem der kulturellen Aneignung
Auch die, die kulturelle Aneignung generell kritisch sehen, haben ganz unterschiedliche Meinungen und Herangehensweisen – Zum Weiterlesen:
- Linkspam/Linksammlung mit kurzen Zusammenfassungen auf dem Mädchenblog
- Kritik an kultureller Aneignung anhand von einer Kosmetikreihe bei der Mädchenmannschaft
- Reaktion einer Leserin auf den Mädchenmannschaft-Artikel bei Reality Rags
- Artikel zum Holi-Festival und theoretischer Nachtrag bei Tea-Riffic
Oder: Warum wir uns über 'Indianer'-Zeltlager unterhalten sollten
Zu den Stolperfallen politischen Lernens gehört es, dass es nie aufhört sich weiterzuentwickeln; immer wieder gibt es Momente, in denen man zurückblickt und mit Schrecken feststellt, dass es genau die Dinge oder Fehler selbst gemacht hat, die es heute problematisch findet. Als ich in den 1990er Jahren auf meinen ersten BDP-Kinderzeltlagern war, gehörten 'Indianer' fest zum Programm. Wir verkleideten uns, flochten uns bunte Strähnen ins Haar, bastelten Kostüme aus zerschnittenen Betttüchern und trugen Federschmuck. Damals war das zauberhaft und spannend und ich bin mir sicher, dass ich im BDP nicht die Einzige bin, die solche Veranstaltungen als schön erlebt hat. Dass es die Natives – also Ureinwohner_innen – Amerikas heute noch immer gibt, dass sie eine leidvolle Geschichte der Unterdrückung erlebt haben, dass ihre Lebensumstände sehr anders sind, als in unserer Vorstellung und in vielen Fällen weiterhin prekär, das war mir damals nicht bewusst. Wenn ich heute auf diese Ferienlager zurückblicke, bereitet mir das Bauchschmerzen.
'Indianer'-Zeltlager oder -Themenwochen haben in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Tradition; schon in der Jugendbewegung, aber auch in den Anfängen des Pfadfindertums in England, war die romantisierte Vorstellung des 'edlen Wilden' eine Projektionsfläche für ein naturnahes, anti-modernistisches Leben. In Deutschland hat sich dieses Bild unter anderem durch die Romane Karl Mays, später durch Faschingskostüme und – im Gegensatz zu Nordamerika – durch die überwiegende nicht-Präsenz der Native Americans1 zu so etwas wie einem eigenen Kulturgut entwickelt; mit der tatsächlichen Kultur und heutigen Lebenswelt derselben haben diese 'Indianer' allerdings nichts zu tun.
Das hochgradig vereinfachte Bild des 'Indianers' ist aus diversen Gründen problematisch. Zum einen schert es über 500 verschiedene indigene Stämme Amerikas mit unterschiedlichen Kulturen über einen Kamm und macht daraus eine uniforme, stereotypisierte Gestalt. Die Darstellung erfolgt zudem als die einer längst vergangenen Epoche Amerikanischer Geschichte. Es gibt diese Natives jedoch noch und sie blicken auf eine jahrhundertelange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Genozid durch weiße amerikanische Siedler_innen zurück. Der Rassismus, dem sie direkt und indirekt ausgesetzt sind, beeinflusst ihre Lebensrealität weiterhin maßgeblich; Diskriminierung erfahren sie überall und in den ihnen zugewiesenen Reservaten kämpfen sie mit schlechten Lebensbedingungen, unter anderem Alkoholismus und hohen Kriminalitätsraten.
Die kulturelle Aneignung (engl. cultural appropriation) von Bestandteilen marginalisierter Kulturen ist eine rassistische Praxis, die deshalb dringend neu gedacht werden muss. Wer Menschen, besonders in politisierten Kontexten, auf solches diskriminierendes Verhalten oder Sprachgebrauch hinweist, wird jedoch oft mit harschen Rechtfertigungen konfrontiert. In der Kinder- und Jugendarbeit wird, gerade im Bezug auf die Darstellung von Native Americans als 'Indianer', gerne argumentiert, dass diese ja nicht rassistisch gemeint sei und die Kultur vielmehr gewürdigt würde. Die Reproduktion rassistischer Klischees sei als Thematik für Kinder sowieso zu Komplex zu verstehen, also auch kein Problem.
In solchen Reaktionen spiegeln sich typische Abwehrreaktionen und Problematiken. Zum einen gibt es, aufgrund ihrer Historie speziell in der Deutschen Gesellschaft, sehr starke Befindlichkeiten wenn Verhalten als rassistisch bezeichnet wird. Im UN-Sonderbericht zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland 2010 sieht der Berichterstatter dies als ein Problem der Rassismus-Definition; allzu oft werde Rassismus nur mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht, womit jedoch alltäglicher, struktureller Rassismus ausgeblendet werde. Da die wirkenden Machtstrukturen und damit die eigenen Privilegien zumeist unsichtbar sind, werden rassistische Verhaltensweisen oft aus Unwissenheit und ohne bösartige Absicht reproduziert.
Während kulturelle Adaption, wie Bloggerin Heng (teariffic.de) erklärt, nicht generell negativ ist – zum Beispiel mit Blick auf multikulturelle Küche – grenzt sie sich klar von kultureller Aneignung ab. Kulturelle Aneignung heißt nämlich nicht nur, Elemente einer anderen Kultur zu übernehmen, sondern sich bestehender Machtstrukturen zu bedienen: Wenn ein weißer Mensch sich mit den Symbolen einer Kultur schmückt, kann sie_er damit für einen Tag, einen Abend oder ein Foto aufregend und exotisch aussehen. Die Person darunter bleibt jedoch offensichtlich weiß, womit sie weiterhin die Privilegien einer_s Weißen genießt; das Erscheinungsbild der angeeigneten Kultur kann stets abgelegt werden. Den Mitgliedern der entsprechenden Ethnie fehlt genau dieses Privileg. People of Colour2 werden für ihre Hautfarbe, aber eben auch für das Tragen von Symbolen ihrer Kultur diskriminiert, werden als primitiv oder rückständig und damit als weniger wert abgestempelt, ihre Existenz in Frage gestellt oder – Stichwort aufreizende 'Indianerinnen'-Kostüme – sexualisiert.
Gerade ein politischer Jugendverband sollte sich in der Pflicht sehen, kritisch mit Privilegien umzugehen und – auch im Rahmen einer interkulturellen Öffnung – verschiedene und eventuell versteckte rassistische Praxen zu hinterfragen. Wenn schon in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen thematisiert wird, wie solche Rassismen im Alltag reproduziert werden, kann dieser Art von struktureller Diskriminierung vielleicht auf lange Sicht vorgebeugt werden.
laura.selle [at] bdp.org (Laura Selle)
1„Native Americans“ ist keine Selbstbezeichnung und wird von manchen indigenen Gruppen kritisch gesehen. Sie ist lediglich weniger problematisch und homogenisierend als das deutsche „Indianer“.
2People of Colour (POC), wörtlich übersetzt 'Menschen von Farbe', ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die keine weißen Privilegien besitzen. Sie wird von Menschen verwendet, die sich einer Vielzahl von Ethnien zuordnen, von Schwarzen ebenso wie von kaukasisch-stämmigen, Hispanics (lateinamerikanischer Hintergrund), Native Americans, diversen „Brown people“ (bspw. nordafrikanischer, arabischer, indischer oder pakistanischer Hintergrund) oder Sinti und Roma.
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Grafik: Atelier Hurra