100 Jahre Bessunger Forst: Ein Blick zurück und nach vorn
100 Jahre Bessunger Forst: Ein Blick zurück und nach vorn
Soulige Klänge wehen über den Platz. Aus mehreren Ecken schallt Geschrei von herumrennenden Kindern. An Bierzeltgarnituren, auf Decken und Sofas sitzen Menschen unterschiedlichsten Alters und genießen eine Vielzahl Kuchen- und Tortenspezialitäten. An der, aus Restholz gezimmerten Theke vor dem Eingang zum Zentralbau stehen Eva und Andi. Eine Schlange von Kund*innen windet sich um die Corona bedingten Einlass- Schleusen und wartet sehnsüchtig darauf, bedient zu werden. Gegenüber brutzeln Wildschweinwürste und vegane Schnitzel, gekonnt gewendet von Knut und Guido. Eine entspannte quirlige Szenerie breitet sich vor dem Auge des Betrachters aus, bei einem Besuch im Sommer des Jahres 2020 auf dem Gelände des Jugendhof Bessunger Forst im Wald zwischen Darmstadt und Roßdorf.
Die Anfänge in der NS Zeit
Um das Jahr 1920 herum wurden auf dem Gelände erste Gebäude errichtet. „Zur Walderholung“ wurde das damals genannt, wie in der Broschüre „20 Jahre Bildungsstätte in Selbstverwaltung“ aus dem Jahr 1986 nachzulesen ist. In ihr ist teilweise bruchstückhaft Geschichtliches aus den ersten Jahrzehnten zu erfahren. Schnell wird einem beim Lesen klar: das Gelände hat eine wechselvolle Geschichte durchlebt.
Bereits 1936 fungierte es als HJ-Lager zur Walderholung, immer eingebettet in die nationalsozialistische Schulung der SS. „Da der Langbau nicht beheizt war, schlief man unter 10 Decken“, berichtet ein Roßdörfer Bürger, der als Kind dort Zeit verbrachte. Nach dem Krieg war es ein Flüchtlingslager.
Ein Streifzug über das Gelände
Die Gruppe von Zuhörer*innen lauscht beim Betrachten der Rückansicht des großen Gebäudes den Worten von Vereinsvorstand Torsten. Dieser führt in den Sommermonaten immer Sonntags zu den Öffnungszeiten des FORSTLOVECAFES Interessierte über das Gelände. Er erzählt von der wechselvollen Geschichte, von den laufenden, umfangreichen Sanierungsarbeiten und den vielen Möglichkeiten, die das Anwesen bietet. Schnell springt seine Begeisterung auf die Lauschenden über. Es wird nach Preisen, Verpflegung, Ausstattung gefragt und spontan erste Visionen möglicher gemeinsamer Projekte andiskutiert. „Wir wollen den Ort so vielen Menschen wie möglich zur Verfügung stellen. Als Ort der Begegnung, des Feierns, der Bildung und des Draußen-Seins“, sagt er.
Wie sehr Geschichte in Wellen verläuft, wird am Ende der Führung klar. Eine junge Frau aus Darmstadt fragt nach den Geflüchteten, die hier untergebracht waren. „Ja stimmt. Von 2016 bis Anfang 2018 waren hier ca. 40 unbegleitete Jugendliche aus Syrien und Afghanistan. Sie wurden hier betreut von PRO INKLUSIO, einer gemeinnützigen Gesellschaft für soziale und berufliche Teilhabe.“ Nach fast 70 Jahren waren also wieder Menschen in Not auf dem Gelände angekommen.
Neue Pläne und Tatendrang
Mit der Neuwahl des Vorstands im Dezember 2019 änderte sich vieles auf dem Jugendhof. Es kam neuer Schwung in den ganzen Verein. Zuletzt war es sehr still geworden, Mitgliederschwund, fehlende Belegungen, vieles lag brach. Der Umschwung kam mit der Wahl von Mo, Felix und Torsten. Andi, der vorher schon viel im Bereich Sanierung des Langbaus geleistet hatte, wurde festangestellt. Im April stieß Eva zum Team und wenig später Guido. Aus diesem Kern heraus entstand viel Neues, trotz der Corona Pandemie. Fast der gesamte Langbau wurde saniert, das Außengelände in Ordnung gebracht, eine Außenküche errichtet und ein alter Bauwagen aus dem Gebüsch gezerrt und aufwendig saniert. Dieser soll perspektivisch ein kleiner Gruppenraum werden.
Die Idee des sonntäglichen FORSTLOVECAFE sprach sich wie ein Lauffeuer in der Stadt Darmstadt und den angrenzenden Landkreisen herum. Der Jugendhof ist wieder Gesprächsthema. Und so kamen, auch aufgrund eines stimmigen (Hygiene) Konzepts, viele Besucher*innen und Seminargruppen. Solche Schwankungen spiegeln sich in der Geschichte des Jugendhofs immer wieder.
Das städtische Kinderheim
In den 50er und 60er Jahren war auf dem Gelände ein städtisches Kinderheim untergebracht. Mädchen und Jungen unterschiedlichsten Alters haben da zusammengelebt, gegessen und sind auch dort beschult worden. „Schaut da oben. links waren wir Mädchen und rechts die Jungs. In der Mitte war der Waschraum und rechts die Klassenräume, oben die Jungs, unten wir“, erzählt die ältere Dame an einem Sonntag während des Cafébetriebs. Verschmitzt lächelt sie den Zuhörer an. Mit einer Handbewegung zeigt sie auf den Bolzplatz, der unterhalb des kleinen Hauses liegt. „Die ganze Fläche hier war unser Gemüsegarten. Da gab es immer was zu tun. Ach, ich hatte eine schöne Zeit hier.“
Immer wieder kommen ältere Menschen auf das Gelände und erzählen ihre Geschichten aus verschiedensten Phasen der Jahrzehnte. Viele freuen sich, dass es das Gelände noch gibt und immer noch Menschen hierherkommen. Ein Grund für den Vorstand zu überlegen, eine Dauerausstellung auf dem Gelände zu konzipieren: mit Stimmen von Zeitzeugen, Bildern auf Tafeln, wetterfest auf dem Gelände verteilt. Eine von vielen Ideen.
Verein Jugendhof Bessunger Forst e.V.
Der Verein Jugendhof Bessunger Forst e.V. wurde 1977 gegründet. Entstanden ist er aus dem BDJ (Bund Deutscher Jungenschaften), Teilen des BDP und der sogenannten Heimmannschaft des Jugendhofs. Das Areal wurde in Selbstverwaltung betrieben, bis heute übrigens. Die ersten 20 Jahre werden in der Broschüre ausführlich beschrieben. Viele Fragestellungen sind bis heute die gleichen geblieben. Auch Arbeitsfelder, die es zu organisieren gilt, ähneln sich sehr. Immer wieder gab es Menschen mit Visionen, die es schafften, Projekte umzusetzen.
Anfang der 80er Jahre wurde aus Mitteln des Zivildienstamtes ein Mitarbeiterhaus errichtet. Bis heute sind Mitarbeiter*innen dort untergebracht. Bis zu 250 Gruppen wurden im Jahr beherbergt. Trotzdem wurde auch immer versucht, eigene Seminare oder Freizeiten anzubieten. Es gab Veranstaltungen im Bereich der Erwachsenenbildung bis hin zu traditionellen Pfingstlagern. Diese Vielfalt ist auch Ziel des aktuellen Teams. Besonders die Mitglieder sollen verstärkt eingebunden werden. Nicht zuletzt wegen der vielen Aktivitäten im Jahr 2020 ist ihre Zahl wieder stark angestiegen.
Aus diesem Umfeld gab es in diesem Jahr eine einwöchige Herbstfreizeit für Kinder von 6-10 Jahren. Aufgrund der Corona Auflagen konnte die Freizeit nur nur mit 10 Kindern stattfinden und die Plätze waren schnell ausgebucht. Leichter Regen geht über der Wiese nieder. Den Kindern in ihren Regenjacken scheint das nichts aus zu machen. „Ich merke das gar nicht“, beteuert das kleine Mädchen. „Hauptsache das Feuer brennt. Wir haben das ohne Feuerzeug anbekommen.“ Wenn es eines Beweises bedurft hätte, ob Erwachsene oder Kinder mehr Probleme haben bei schlechtem Wetter draußen zu sein, ist dieser wohl erbracht. Fünf Tage lang trafen sich die Kinder. Von 9 bis 16 Uhr wurde Feuermachen gelernt, Zutaten für das Mittagessen im Wald gesammelt und vieles mehr. Der Erfolg gab den Teamenden recht.
Es ist bereits eine feste Wald-Kinder-Gruppe für das Jahr 2021 in Planung und auf lange Sicht gesehen sogar die Einrichtung eines Waldkindergartens. Erste Gespräche mit der Stadt Darmstadt und dem BDP als potentiellem Träger sind geführt worden.
Wie weiter?
Nicht nur in der jetzigen schwierigen Lage der Pandemie stellen sich dem Team des Jugendhofs die Fragen: Wie organisieren wir die tägliche Arbeit? Wo bekommen wir Gelder her für nötige Sanierungen oder Reparaturen? Wie kann der langfristige Erhalt von Arbeitsplätzen und des Hausbetriebs gestaltet werden? Nur mit ehrenamtlichen Mitgliedern kann der Jugendhof diesen Kraftakt nämlich nicht schultern. Es wird darauf ankommen, sich breit aufzustellen und mit den unterschiedlichsten Initiativen, Verbänden und Organisationen zusammen zu arbeiten. Kooperationen werden besonders in Darmstadt und dem Landkreis gesucht, aber auch bundesweit und das immer wiederkehrende Auf und Ab gilt es zu vermeiden.
Das Potential des Geländes ist riesengroß. Nur der reine Beherbergungsbetrieb wird da nicht ausreichen. Aus diesem Grund gibt es Überlegungen, mehr im Bereich Kultur anzubieten, aber auch interessanter Ort für externe Veranstalter*innen zu sein. Schulen könnten das Gelände und die Räume für Projekttage oder Wochen nutzen, viel mehr als zur Zeit noch. Eine räumliche Entzerrung in den Klassenräumen wäre eine positive Folge. Bezahlbarer Raum für Tagesseminare ist im Rhein-Main-Gebiet begrenzt. Auch hier gibt es Steigerungspotential. Das Leben und die Angebote auf dem Jugendhof Bessunger Forst werden sich weiter verändern und entwickeln. Ein Prozess, der hoffentlich weitere 100 Jahre anhält. Mindestens.
Von Torsten