WildwüXig unterwegs
Eine Parkwiese in Bremerhaven, ein großer Zirkuswagen, eine improvisierte Bar, zwei Hocker.
So sieht heute die Theaterbühne aus.
Lisa und Fine laufen sich in in dieser Kulisse, nämlich einer Kneipe, über den Weg. Die beiden sind Schwestern und haben sich schon ein paar Jahre lang nicht mehr gesehen.
„Willst du was trinken?“
„Ich hätte gern ein alkoholfreies Bier, bitte.“
„Oh. Das hätte ich von dir nicht erwartet...“
Und schon wird klar: Beide haben viel erlebt und sich verändert. Zu Beginn noch ganz vorsichtig kommt die Unterhaltung ins Rollen. Gemeinsame Erlebnisse werden in Erinnerung gerufen und... „erinnerst du dich noch an die Zuckerwatte, damals auf dem Herbstmarkt?“ Aber schon bald geht es um Zukunftspläne, um Träume und Ängste.
Lisa ist viel gereist, hat bei Projekten mitgeholfen und Musik gemacht. Sie ist ruhelos und will „raus aus dem deutschen Kaltland“. Und Fine kann das mittlerweile nachvollziehen. Auch wenn sie sich nicht so mutig fühlt wie ihre Schwester Lisa. Die erzählt ganz begeistert davon, wie sie vor Kurzem zum ersten Mal Stage Diving ausprobiert hat und dabei einen richtigen Klickmoment hatte.
Wir alle haben manchmal solche Klickmomente. Wenn wir erkennen, dass Wut eine produktive Kraft ist oder wir nicht immer aus Prinzip handeln wollen. Oder wenn wir lernen, Rosenkohl unten kreuzweise einzuschneiden, damit er nicht bitter wird.
Fine geht’s nicht gut.
Das haben wir - da draußen im Publikum - bereits gespürt.
Sie hat sich von ihrer Freundin getrennt und irgendwie ist gerade ‚eh alles anders‘. Nachdem sie das ausspricht, herrscht bedrücktes Schweigen.
Beide Schwestern müssen sich dazu durchringen, ihre Verletzlichkeit zu zeigen, aber nach einem Zögern nehmen sie sich in den Arm.
Lisa will raus aufs Mittelmeer. Sie kennt da ein paar Leute in einer Seenotrettungscrew, die Unterstützung gebrauchen können. Nach kurzem Zögern sagt sie: „Aber, wenn ich ganz ehrlich bin... hab ich Angst.“
Natürlich, Angst ist kein Grund dafür, sich von Menschen abzugrenzen. Und ganz bestimmt ist sie auch kein Grund dafür, nicht einfach mal etwas durchzuziehen. Aber vielleicht ist es auch eher die Angst vor der Veränderung. Und Veränderungen gibt es halt immer, ganz besonders wenn wir in Gemeinschaft leben.
Dann fragt Fine: „Wie geht es dir eigentlich?“
Und plötzlich fasst Lisa all meine wirren Gedanken in Worte und ich sitze im Park auf der Wiese, und fühle mich wie eine Sitznachbarin dort in der Kneipe, die das Gespräch der Schwestern aufschnappt.
„Keine Ahnung, ganz unterschiedlich.“
Das Gespräch am Tresen hält immer wieder inne und wird dann untermalt von Performances der Theatercrew, einer Zuckerwattemaschine, dem Klimawandel, Stage Diving, Selbsthilfegruppen und herzerwärmenden Punksongs.
Das Chamäleon im Spiegelkabinett. So heißt das Stück, das die Menschen der WildwuX Theatergruppe dieses Jahr gemeinsam geschrieben und geprobt haben. Jeden Sommer fahren sie, nach ausgiebigem Schreiben und Proben, mit den BDP-eigenen Zirkuswägen durch Niedersachsen und treten in Parks und an anderen öffentlichen Plätzen auf. Meist dient einer der Wägen als Kulisse, der Rest der Requisite muss gut verstaubar sein. Denn in den Wägen wird auch gekocht, geschlafen und natürlich von A nach B gefahren. Mit 20 Stundenkilometern wohlgemerkt, denn mehr geht mit den Treckern einfach nicht.
Es gibt ein paar Leute, die jetzt schon seit einigen Jahren immer wieder bei den Proben und der Tour dabei sind. Nicht nur auf der Bühne, sondern natürlich auch dahinter. Zum Kochen, Rangieren oder zur moralischen Unterstützung. Manchmal kommt Besuch vorbei und bringt Kuchen mit. Im Publikum sitzen fast immer auch Freund*innen und die sieht man besonders gern Lachen und Staunen.
Jedes Jahr ist die Gruppe anders. So ergeben sich aufregende Zusammenarbeiten, wie etwa 2018 mit den zwei Bands „Hörzu!“ und „Zerreißprobe“, die Teil der Rotzfrechen Asphaltkultur (RAK) sind.
Manche können turnen, manche Songs schreiben, manche besonders gut Chamäleon sein - alles wird eingebaut. So ist das Theaterstück jedes Jahr anders und neu.
WildwuX ist ein Projekt im BDP Niedersachsen, das es schon seit fast 40 Jahren gibt.
Für diesen Sommer (2020) werden bereits seit einigen Monaten ganz besondere Pläne geschmiedet. Denn dieses Jahr zieht WildwuX deutlich größere Kreise. Getourt wird durch Niedersachen, Thüringen, Nordhessen und Nordrhein-Westfalen. Das Ganze wird etwa drei Monate dauern (Treckergeschwindigkeit...) und darin sind die ausgiebigen Proben noch nicht inbegriffen. Die Gruppe will sich mehr Zeit nehmen und länger an den Orten verweilen, die sie besucht. Die Zeit soll dann auch dazu da sein, sich mit anderen Projekten und Menschen auszutauschen und Ideen für die Zukunft zu spinnen. Um dem Ganzen die Zipfelmütze aufzusetzen, hat WildwuX auf der großen Tour gleich zwei Theaterstücke, sowie jede Menge Workshops im Gepäck. Von Showkampf über Backen und Wagenbau bis zur theoretischen Auseinandersetzung mit Wut & Gender gibt es da Einiges zur Auswahl.
All das geschieht aus keinem anderen Grund, als dem, dass es da ein paar Leute gibt, die richtig Bock haben. So, wie ich das eben vom BDP kenne.
Der Alltag auf Tour scheint auf den ersten Blick eine ganz schön romantische Angelegenheit zu sein. Viel frische Luft, jeden Tag gemeinsam Essen, in der Sonne rumliegen und auf der Bühne austoben und Zuschauer*innen verzaubern. Allerdings braucht es auch eine ganze Menge Kommunikation, Arbeit und Geduld, damit alles funktioniert. So einen zehn Meter langen Wagen mit einem Trecker zu rangieren kann eine echt haarige Angelegenheit werden. Und die Einkäufe, die Wasserbeschaffung, das Kochen und das Abwaschen wollen auch koordiniert werden. Eigentlich gibt es immer viel zu tun und die Momente des Durchatmens sind dann besonders wertvoll. Zwischen Besprechungen und Aufbau/Abbau gibt es zum Glück immer auch ein bisschen Zeit zum Zusammensitzen und Quatschen, Briefchen schreiben, oder für Wattwanderungen. Und selbst als Besucherin wird ein bisschen handgemachte Utopie spürbar.
Von Tabea und Neele
31.03.2020 Ein Update aus der Crew: Nach kurzer Corona-Schockstarre versuchen wir nun alternative kreative (Theater-)Formate zu entwickeln. Denn gerade jetzt ist es wichtig, öffentliche Diskurse auch auf künstlerischer und emanzipatorischer Ebene zu führen. Es bleibt also spannend.
Aktuelle Infos findet ihr auf unserer Website www.wildwux.org
oder auf Instagram @wildwux_theater